Russische Touristen in Karlsbad: Geschichte einer besonderen Beziehung

Russische Touristen Karlovy Vary
Russische Touristen Karlovy Vary / ©jirivanicek/depositphotos.com

Karlsbad (tschechisch Karlovy Vary) gehört seit Jahrhunderten zu den berühmtesten Kurorten Europas und hat eine lange Geschichte als Anziehungspunkt für Gäste aus Russland. Diese besondere Verbindung ist historisch gewachsen und spiegelt sich in Kultur und Wirtschaft der Stadt wider. Im folgenden Bericht werden die Hintergründe dieser Beziehung vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart (2025) beleuchtet – von den ersten Besuchen russischer Zaren und Adliger über die Rolle des Kurorts in Sowjetzeiten bis hin zu aktuellen Entwicklungen unter dem Eindruck geopolitischer Spannungen. Konkrete Daten und Ereignisse verdeutlichen den Wandel: Einst war Karlsbad nahezu eine „russische Enklave“​, doch seit 2014 und vor allem seit 2022 hat sich vieles verändert.

Historische Ursprünge: Russische Adelige und Künstler im Kurort

Die russische Präsenz in Karlsbad reicht bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück. Bereits 1710 kam Zar Peter der Große nach Karlsbad (damals ein Kurort in Böhmen) – einer Legende nach überzeugte ihn ein Tauchbad in den Thermalquellen von deren Heilkraft​. Der Zar trank angeblich „große Mengen Wasser“ und fühlte sich so gestärkt, dass er später in Karelien den ersten russischen Kurort gründete (1719)​. Mit solchen Besuchen legte die Zarenfamilie den Grundstein für eine russische Kurtradition: „Die Begeisterung der Romanows fürs Kuren ermutigte Generationen von Russen, die Region zu besuchen“, schreibt Hidden Europe über diese Zeit​.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts avancierte Karlsbad zu einem beliebten Reiseziel für die russische Oberschicht. Wohlhabende Adelshäuser und Intellektuelle aus Russland kamen regelmäßig „zur Kur“ – es galt unter Europas Eliten als gute Sitte, sich jährlich einen Kuraufenthalt zu gönnen​. Zu den prominenten Besuchern zählten russische Schriftsteller wie Iwan Turgenew und Fjodor Dostojewski​ Auch Leo Tolstoi soll in Karlsbad die schwefelhaltigen Wässer „literweise“ getrunken haben, um seine Verdauung zu verbessern​. Solche Aufenthalte waren mehr als Erholung – sie boten Gelegenheit zum gesellschaftlichen Austausch. Der Kurort entwickelte sich zum Treffpunkt von Aristokraten und Künstlern aus ganz Europa, darunter viele Russen. Bereits 1898 wurde in Karlsbad eine prächtige russisch-orthodoxe Kirche (St. Peter und Paul) errichtet – ein sichtbares Zeichen dafür, wie zahlreich russische Kurgäste in der Stadt weilten​. Diese Kirche, bis heute die größte orthodoxe Kirche Tschechiens, steht exemplarisch für den kulturellen Fußabdruck Russlands in Karlsbad.

Karlsbad in der Sowjetzeit: Exklusives Reiseziel hinter dem Eisernen Vorhang

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Karlsbad unter die Kontrolle der Tschechoslowakei, die Teil des Ostblocks wurde. In der kommunistischen Ära (1948–1989) blieb der Ruf des Kurorts in der Sowjetunion lebendig – allerdings war eine Reise dorthin nur wenigen Auserwählten möglich​. Sowjetische Parteiführer und Funktionäre hielten an der Kurtradition fest und pflegten sie demonstrativ weiter​. Für die breite Bevölkerung wurden im ganzen Land sowjetische Sanatorien errichtet, sodass Kuraufenthalte überwiegend im eigenen Land stattfanden. Dennoch blieb „Karlsbad“ in der UdSSR ein Begriff: Die sowjetischen Bürger kannten den legendären Kurort oft besser als die Hauptstadt Prag​. Wer jedoch selbst einmal nach Karlsbad reisen durfte, gehörte zur Elite.

In manchen Fällen wurden verdiente Sowjetbürger im Rahmen staatlicher Programme nach Karlsbad geschickt. So schickten sowjetische Gewerkschaften ausgewählte „Vorzeigearbeiter“ zur Erholung auf Kur nach Karlsbad – eine vollständig vom Staat bezahlte Auszeichnung​. Diese Reisen waren allerdings selten. Im Allgemeinen galt Karlsbad in Sowjetzeiten als exklusives Reiseziel, das nur mit Sondergenehmigung besucht werden konnte. Obwohl also das Gros der russischsprachigen Bevölkerung Karlsbad nie persönlich sah, blieb der Ort in der sowjetischen Vorstellungswelt ein Synonym für wirkungsvolle Kurheilungen und europäischen Kur-Luxus. Die Tradition der russischen Kuren überdauerte so selbst die Sowjetzeit – sie wurde im eigenen Land (etwa an den kaukasischen Mineralbädern oder auf der Krim) weitergeführt und lebte mit der Öffnung der Grenzen nach 1990 wieder voll auf​.

Neubeginn nach 1990: Russischer Tourismus-Boom und Investitionen

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) änderte sich die Situation grundlegend. Plötzlich konnten russische Bürger frei ins westliche Ausland reisen – und Karlovy Vary (Karlsbad) wurde „förmlich überrannt“​. In den 1990er- und 2000er-Jahren setzte ein wahrer Boom russischer Kurgäste ein, der den Charakter der Stadt spürbar veränderte. Sona Bízková, eine langjährige Reiseleiterin in Karlsbad, berichtet: „Als sich in den 90ern die Grenzen öffneten und den Russen plötzlich die Welt offenstand, da wurde die Perle des böhmischen Bäderdreiecks förmlich überrannt.“​ Viele Russen wollten nun nachholen, was ihnen zuvor verwehrt gewesen war.

Die Zahlen untermauern diesen Boom: In den späten 1990ern zählte Karlsbad jährlich rund 15.000 bis 18.000 russische Besucher​. Bis in die 2010er-Jahre stieg die Zahl weiter – auf etwa 20.000 russische Kurgäste pro Jahr, die damit die mit Abstand größte Besuchergruppe stellten​. Zum Vergleich: Kein anderes Land entsandte auch nur annähernd so viele Kururlauber nach Karlsbad. Diese russischen Gäste blieben oft für drei oder mehr Wochen zur Kur und gaben viel Geld in Hotels, Restaurants und Luxusgeschäften aus​. Anders als etwa deutsche oder tschechische Touristen, die meist nur ein paar Tage blieben, wollten die Russen „das volle Programm“ – einen kompletten Kurzyklus mit täglichen Behandlungen​.

Parallel zum Touristenboom floss umfangreich russisches Kapital in die Stadt. Wohlhabende Geschäftsleute (darunter auch einige Oligarchen) investierten in Hotels, Sanatorien und Geschäfte. In den 1990er-Jahren wurden viele ehemals staatliche Kurhotels privatisiert – und oft von russischen Käufern übernommen​. Direktverbindungen per Flugzeug zwischen Moskau und Karlovy Vary machten den Kurort bequem erreichbar​. So landeten beispielsweise täglich Maschinen aus Russland auf dem Karlsbader Flughafen, der zeitweise überwiegend von russischen Charter- und Privatflügen genutzt wurde. Eine dieser Linien war noch bis vor wenigen Jahren die Verbindung der Airline Pobeda von Moskau nach Karlsbad​.

Der wirtschaftliche Aufschwung Karlsbads in dieser Zeit hing eng mit der russischen Kundschaft zusammen. Einheimische Beobachter stellten fest, dass ohne die russischen Investitionen die Entwicklung der Stadt wesentlich langsamer verlaufen wäre​. In den 1990ern hatten zunächst auch deutsche Investoren Interesse gezeigt, doch ihr Engagement flaute bald ab – viele warteten rein spekulativ auf Wertsteigerungen​. Die Russen hingegen investierten kontinuierlich und sichtbar, vor allem in die Kernbranche Kur und Wellness​. Bis um 2000 waren russische Unternehmer zu den größten Arbeitgebern der Stadt geworden, da ihnen zahlreiche Kurhotels gehörten​. Diese Entwicklung brachte Karlsbad im Volksmund scherzhafte Beinamen ein – man sprach spöttisch von „Klein Moskau“ (Malá Moskva) in Westböhmen​.

Allerdings war das Verhältnis zwischen Einheimischen und den neuen russischen Stammgästen anfangs nicht frei von Spannungen. Einige Karlsbader betrachteten die wohlhabenden Russen mit Argwohn – teils wegen Erinnerungen an die Sowjetzeit, teils aufgrund von Kulturunterschieden. Anfangs kursierten Geschichten über „neureiche Russen“, die sich ungehobelt benommen und gemeint hätten, mit Geld alles kaufen zu können​. Doch mit der Zeit passten sich beide Seiten an. Die Russen lernten die lokalen Gepflogenheiten besser kennen, und die Tschechen erkannten, dass die Stadt wirtschaftlich von den Gästen profitierte. „Sie haben ja vielen hier Arbeit verschafft“, resümiert Reiseleiterin Bízková über die russischen Kurgäste​. Spätestens in den 2000er-Jahren war die Präsenz der Russen zum festen Bestandteil des Karlsbader Stadtlebens geworden.

Wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen: Immobilien, Unternehmen und „Little Moscow“

Die langjährige russische Dominanz im Karlsbader Tourismus schlug sich nachhaltig in Wirtschaft und Stadtbild nieder. Besonders auffällig war der Immobilienerwerb durch Russen: Schätzungen zufolge befand sich zu Spitzenzeiten die Hälfte der Immobilien im historischen Stadtzentrum in russischem Besitz​. Entlang der Teplá (dem Fluss durch die Kurzone) gehörten um 2010 zahlreiche Grandhotels, Kurpensionen und prachtvolle Villen russischen Eigentümern. Ein ortsansässiger Makler formulierte es überspitzt: „Alles, was rechts von der Sparkasse liegt, ist in russischer Hand – Hotels, Wohnhäuser, alles.“​. Von den ca. 20.000 Wohnungen in Karlsbad hatten nach seiner Schätzung „ein paar Tausend“ russische Besitzer, vornehmlich in malerischer Zentrumslage​. Viele dieser Apartments blieben die meiste Zeit des Jahres leer und wurden nur während der drei Kurwochen der Eigentümer bewohnt​.

Auch in der lokalen Geschäftswelt hinterließen die Russen Spuren. Zahlreiche Hotels, Restaurants und Geschäfte stellten ihr Angebot gezielt auf die russische Kundschaft ab. In den 2000er-Jahren waren russische Sprachkenntnisse für Hotelpersonal und Kellner beinahe Pflicht, und an Geschäftsschildern, Speisekarten und Werbetafeln prangte allenthalben kyrillische Schrift. Einige der traditionsreichen Grandhotels – etwa das Hotel Tschechow (Tschaikowsky) oder das Hotel Pupp – wurden von russischen Direktoren geführt oder hatten russische Teilhaber. Selbst Apotheken und Juweliere in der Kurzone warben auf Russisch um Kundschaft​. Karlsbad war in dieser Hinsicht einzigartig in Tschechien: Russisch avancierte „zum neuen Deutsch“ in der Stadt, nachdem Deutsch (die Sprache der vertriebenen Sudetendeutschen) und auch Tschechisch im öffentlichen Raum zeitweise zurückgedrängt wurden​.

Neben der wirtschaftlichen kam es auch zur kulturellen Verankerung der Russen in Karlsbad. Die bereits erwähnte orthodoxe Kirche St. Peter und Paul ist bis heute aktiv und diente lange der wachsenden russisch-orthodoxen Gemeinde als geistiges Zentrum. Es gab russische Kulturvereine und regelmäßige gesellschaftliche Events. So wurde zum Beispiel in den Jahren 2018 und 2019 am 9. Mai in Karlsbad ein „Unsterbliches Regiment“ organisiert – eine Gedenkparade wie in russischen Städten, bei der an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert wird​. Diese Veranstaltung, an der vor allem in Karlsbad lebende Russen teilnahmen, brachte symbolisch zum Ausdruck, dass Karlsbad zu diesem Zeitpunkt eine Art „russische Hauptstadt Tschechiens“ war​.

Allerdings blieben die russischen Investitionen nicht ganz unumstritten. Tschechische Medien und Behörden beobachteten das russische Engagement aufmerksam. Bereits 1997 warnte der tschechische Geheimdienst (BIS), dass auch russische Geheimdienste und teils kriminelle Netzwerke Immobilien in Karlsbad in großem Stil aufkauften​. Im Jahr 2000 schätzte Der Spiegel den Wert der in Karlsbad von russischen Sicherheitsdiensten gehaltenen Immobilien auf rund 30 Millionen US-Dollar. Solche Berichte trugen zum ambivalenten Bild der russischen Präsenz bei – einerseits brachte sie Investitionen und zahlungskräftige Gäste, andererseits weckte sie Sorgen über Einflussnahme und Geldwäsche. 2004 wies die tschechische Generalstaatsanwältin Marie Benešová auf erhebliche Summen aus der russischen Organisierten Kriminalität hin, die in Karlsbader Luxusimmobilien geflossen seien​. Diese Problematik blieb jedoch für Außenstehende meist unsichtbar und änderte wenig daran, dass Russen in Karlsbad zumeist als willkommene Kundschaft galten.

Brüche seit 2014: Ukraine-Krise, Sanktionen und das Wegbleiben der Russen

Die enge Bindung zwischen Karlsbad und seiner russischen Klientel begann sich ab 2014 zu lockern. Hintergrund war die politische Entwicklung: Nach der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 und dem Ausbruch der Ukraine-Krise verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Dies wirkte sich schleichend auch auf den Tourismus aus​. Zunächst führten die westlichen Sanktionen und der Wertverfall des Rubels zu einem spürbaren Rückgang russischer Gäste. Viele wohlhabende Russen mussten ihre Auslandsreisen einschränken. In Karlsbad machte sich dies in den folgenden Jahren durch rückläufige Buchungszahlen bemerkbar​. Die Stadt wurde noch bis vor Kurzem scherzhaft „die russische Hauptstadt Tschechiens“ genannt, aber nach 2014 setzte ein langsamer Abwärtstrend ein​. Russische Investorengelder flossen nun zögerlicher – seit 2014 ging der Zufluss von russischem Kapital deutlich zurück, und deutsche Gäste wurden wieder zur größten ausländischen Besuchergruppe​. Trotzdem blieb Russland bis Ende der 2010er ein wichtiger Markt: 2019 machten Russen immer noch 8,7 % aller Gäste und rund 17 % aller Übernachtungen in der Region Karlsbad aus​. In absoluten Zahlen verbrachten russische Touristen im Jahr 2019 etwa 350.000 Übernachtungen in Karlsbad​ – trotz des leichten Rückgangs infolge der Krim-Krise hatte man damit nahezu das Niveau von vor 2014 wieder erreicht​. Auch touristisch war 2019 ein Rekordjahr, bevor die nächste Zäsur folgte.

Zunächst brachte die Covid-19-Pandemie 2020/21 den internationalen Tourismus weltweit zum Erliegen – auch russische Besucher konnten zeitweise gar nicht anreisen. In Karlsbad blieben während der Lockdowns alle traditionellen Kurgäste aus; russische Eigentümer von Ferienwohnungen konnten wegen Reisebeschränkungen und fehlender EU-Anerkennung des russischen Sputnik-Impfstoffs nicht einreisen​. Die Stadt versuchte diese Flaute mit staatlichen Hilfen und verstärkter Werbung für inländische Besucher zu überbrücken​. Kaum waren jedoch die Pandemiebeschränkungen ab 2022 gelockert, folgte der Krieg in der Ukraine und schnitt Karlsbad endgültig vom russischen Markt ab.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stellte sich Tschechien demonstrativ an die Seite Kiews​. Die tschechische Regierung ergriff strikte Maßnahmen: Bereits ab März 2022 wurden keine touristischen Visa mehr an russische Staatsbürger ausgestellt​. Im Oktober 2022 verschärfte Prag die Regelung nochmals und verhängte ein Einreiseverbot für russische Touristen mit Schengen-Visum, sofern sie aus Nicht-EU-Staaten einreisen wollten​. Zudem bleibt der europäische Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, was Direktflüge nach Tschechien unmöglich macht​. Diese Politik des Nicht-Willkommens​ zeigte umgehend Wirkung: Der russische Gesundheitstourismus nach Karlsbad brach vollständig zusammen​. Praktisch von einem Tag auf den anderen blieben die zahlungskräftigen Gäste aus Russland aus.

Die Zahlen illustrieren den Einbruch drastisch. 2019 wurden – wie erwähnt – noch rund 350.000 Übernachtungen von russischen Gästen in Karlsbad gezählt​. 2022 hingegen waren es nur noch etwa 10.000 Übernachtungen​. Damit sank der Anteil russischer Gäste auf ein Minimum: In den ersten drei Quartalen 2022 lag der russische Anteil an allen Besuchern in der Region Karlsbad bei nur noch 1,2 % (Übernachtungen: 4,5 %)​. Der Direktor des städtischen Infozentrums, Josef Dlohoš, sprach von einem „enormen Rückgang“ und konstatierte, dass „ohne die Russen die Spa-Branche derzeit nicht überleben kann“​. Auch die Bürgermeisterin Andrea Pfeffer-Ferklová – selbst frühere Direktorin des Grandhotels Pupp – warnte eindringlich: Falls keine neuen Gästeschichten gefunden würden, „wird die Spa-Branche als solche komplett sterben“. Karlsbad wäre dann kein Kurort mehr, sondern nur noch ein Ausflugsziel wie viele andere​.

Die Auswirkungen auf Wirtschaft und Stadtbild waren schon 2022 deutlich sichtbar. Zahlreiche Hotels, die fast ausschließlich russische Kurgäste beherbergt hatten, standen vor der Schließung. Ein Beispiel: Das Kurhotel Tschaikowsky (180 Betten) zählte im Frühjahr 2022 zeitweise nur 12 belegte Zimmer. Ein ganzer Gebäudeflügel (der „Palast“) blieb mangels Gästen geschlossen. Entlang der Kurpromenade schlossen Dutzende Läden, die vom Luxusshopping der Russen gelebt hatten. Ein Immobilienmakler zählte auf einer 2,5 km langen Strecke etwa 40 verwaiste Geschäfte​. Auch viele russische Privatwohnungen in Karlsbad standen plötzlich leer, da ihre Besitzer nun gar nicht mehr einreisen durften​. Die finanziellen Sanktionen stellen zusätzlich ein Problem dar: Russischen Eigentümern ist es kaum möglich, Geld aus Russland nach Tschechien zu transferieren, um Nebenkosten oder Instandhaltungen zu bezahlen​. Sogar Eigentümergemeinschaften in Wohnhäusern spüren dies – wenn mehrere Russen ihre monatlichen Hausgelder nicht mehr überweisen können, drohen Liquiditätsprobleme​.

Zugleich versuchen viele russische Investoren, sich von ihren Karlsbader Immobilien zu trennen. Dutzende Hotels und Gebäude wurden 2022/23 zum Verkauf angeboten, da russische Besitzer Sanktionen entgehen und nicht länger in ein Land investieren wollen, in das sie selbst nicht mehr reisen dürfen​. Allerdings gestaltet sich der Verkauf schwierig: Wegen der Sanktionen sind Transaktionen mit russischen Eigentümern kompliziert, und potenzielle Käufer schrecken vor den überteuerten Immobilien zurück, die oft nur aus Prestigegründen erworben worden waren​. So hängen vielerorts „Zu verkaufen“-Schilder (teils sogar auf Kyrillisch) an russischen Häusern – doch „niemand will sie“, wie es ein Bericht pointiert formuliert​. Ein Beispiel ist das Hotel Aberg vor den Toren Karlsbads, einst beliebt bei russischen Politikern und dubiosen Geschäftsleuten, das nun für über 100 Mio. Kronen angeboten wird​. Insgesamt sollen etwa 50 Immobilien in Karlsbad russische Eigentümer gehabt haben; viele davon stehen jetzt leer oder zum Verkauf​.

Hotel Aberg
Hotel Aberg (dauerhaft geschlossen)

Politisch führte die neue Lage zu kontroversen Diskussionen in Karlsbad. Während die Stadtführung nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs die Linie der Regierung mittrug, regte sich Widerspruch gegen allzu offensives Werben um russische Kundschaft. Ende 2022 geriet z.B. eine geplante Marketingkampagne auf Russisch in die Kritik, die das städtische Informationszentrum auf Drängen örtlicher Hoteliers vorbereitet hatte​. Die Anzeigen sollten gezielt russischsprachige Menschen in Deutschland ansprechen – also etwa Russlanddeutsche, die trotz allem noch zur Kur nach Karlsbad kommen könnten​. Teile des Stadtrats verlangten jedoch einen Stopp der Kampagne, da sie in Kriegszeiten ein falsches Signal sende​.

Dieser Konflikt zeigt das Dilemma: Einerseits ist man in Karlsbad wirtschaftlich auf das russische Klientel eingestellt, andererseits verbieten es die politischen Umstände, aktiv um diese Gäste zu werben.

Auch kulturell gab es Einschnitte: Traditionelle russische Veranstaltungen wie der Gedenkmarsch am 9. Mai finden nicht mehr statt – 2022/23 wurden sie von pro-ukrainischen Kundgebungen abgelöst, an denen viele der in Karlsbad untergekommenen ukrainischen Kriegsflüchtlinge teilnahmen​.

Stand 2025: Neue Trends im Tourismus und Perspektiven

Im Jahr 2025 präsentiert sich Karlsbad in einer Phase des Übergangs. Russische Touristen aus Russland selbst sind nur noch in homöopathischen Dosen vorhanden. Aufgrund der Visa- und Einreisebeschränkungen können klassische Gäste aus Russland de facto nicht anreisen. Die wenigen russischsprachigen Besucher, die man noch antrifft, stammen überwiegend aus anderen Ländern der EU – es handelt sich z.B. um russischstämmige Deutsche, Balten oder Tschechen mit russischen Wurzeln. Diese kommen individuell oder über spezielle Reiseveranstalter und füllen geringfügig die Lücke. So hört man in den Straßen Karlsbads zwar auch 2023/24 noch oft die russische Sprache, aber häufig handelt es sich dabei um Russlanddeutsche oder ukrainische Besucher, nicht um Touristen direkt aus Russland​. Das russische Stimmengewirr täuscht also darüber hinweg, dass die eigentlichen russischen Stammgäste fehlen.

An ihre Stelle rücken allmählich andere Besuchergruppen. Bereits seit Mitte der 2010er zeichnet sich ab, dass deutsche und mitteleuropäische Touristen wieder an Bedeutung gewinnen. Spätestens nach 2022 sind Deutsche wieder die mit Abstand größte ausländische Gästegruppe in Karlsbad (landesweit lag Deutschland 2023 an der Spitze aller Besuchernationen)​. Auch aus Nachbarländern wie der Slowakei, Polen und Österreich kommen wieder vermehrt Kurgäste und Wellnessurlauber. Die tschechische Tourismuszentrale und lokale Hoteliers bemühen sich, neue Märkte zu erschließen: „Es wird aktiv um Gäste aus dem arabischen Raum, aus Israel und aus Russlands Nachbarland Kasachstan geworben“, berichtet die Moskauer Deutsche Zeitung 2023​. Vor allem Besucher aus den Golfstaaten gelten als vielversprechend, da auch sie zahlungskräftig sind und Interesse an Gesundheits- und Medizintourismus zeigen​. Tatsächlich reisen arabische Gäste bereits seit einigen Jahren verstärkt in böhmische Kurorte; dieser Trend soll nun gezielt ausgebaut werden​. Ebenso rücken Israelis in den Fokus – Israel gehört seit jeher zu den wichtigen Auslandsmärkten für Tschechiens Tourismus, und die Kombination aus mitteleuropäischer Kurtradition und jüdischer Geschichte (Karlsbad hatte einst eine große jüdische Gemeinde) könnte für israelische Kundschaft attraktiv sein. Kasachstan wiederum ist ein Land mit vielen wohlhabenden russischsprachigen Bürgern, die nun eventuell eher nach Karlsbad reisen können als Russen aus Russland selbst​.

Die touristische Infrastruktur in Karlsbad passt sich diesen Veränderungen an. Da Gäste aus Westeuropa und der arabischen Welt oft andere Erwartungen haben als die traditionellen russischen Kurgäste, verändern einige Anbieter ihr Konzept. „Wellness ist das neue Zauberwort in Karlsbad“, sagt Reiseveranstalter Alexander Herdt​. Westliche Touristen möchten eher Entspannung und kürzere Wellness-Aufenthalte statt strenger dreiwöchiger Trinkkuren mit ärztlicher Überwachung. Viele Hotels werben daher mit Spa-&-Wellness-Paketen, Massagen und kurzen „Kururlaub light“-Angeboten​. Dies ist ein spürbarer Kulturwandel: Klassische Kur bedeutet in Karlsbad eigentlich eine mindestens dreiwöchige Behandlung inklusive Diät, Anwendungen und Trinkkur – doch „heutige Kurgäste bleiben oft nur eine Woche“, so Bízková​. Zwei Wochen seien schon die Ausnahme, von den früher üblichen drei ganz zu schweigen​. Diese verkürzten Aufenthalte stellen die Kurkliniken vor Herausforderungen, denn das Geschäftsmodell muss umgestellt werden. Tages- und Wochenendgäste aus dem nahen Ausland bringen zwar Leben in die Stadt (an milden Tagen wirken die Kolonnaden durchaus belebt​), ersetzen aber nicht die immensen Einnahmen länger residierender Gäste. So mancher Hotelier trauert daher den Russen wirtschaftlich nach: „Denn die wollten das volle Programm“​ – und zahlten dafür.

Dennoch gibt es Anlass zur Hoffnung, dass Karlsbad diese Umbruchphase meistert. Die Aufnahme des gesamten Bäderdreiecks (Karlsbad, Marienbad, Franzensbad) in die UNESCO-Welterbeliste 2021 hat die internationale Sichtbarkeit erhöht​. Dieses Prädikat zieht kulturinteressierte Touristen aus aller Welt an und unterstreicht den einzigartigen historischen Wert der Kurstadt. Zudem haben während der Pandemie viele Tschechen ihr eigenes Land neu entdeckt: Sie kommen nun häufiger selbst nach Karlsbad und haben gemerkt, dass ein Aufenthalt dort „gar nicht teurer ist als Prag oder Brünn“​. Dieser Trend zum Inlandstourismus hält an, was zumindest einen Teil der Lücke füllt.

Die Stadt und ihre Unternehmer sind zugleich dabei, ihr Marketing breiter aufzustellen. Aus dem ehemals stark auf Russisch ausgerichteten Kurort soll ein vielfältigeres Reiseziel werden. Man hofft insgeheim, dass aus den jetzigen Wellnessgästen zukünftige Kurpatienten werden könnten, wenn sie Gefallen an Karlsbad finden​. Vielleicht führt ein kürzerer Wohlfühlurlaub dazu, dass manche Gäste später einmal einen „richtigen“ dreiwöchigen Kuraufenthalt buchen – so das Kalkül.

Josef Dlohoš vom Infozentrum meint optimistisch: „Die Renaissance von Karlovy Vary wird kommen“​. Doch fügt er hinzu, dies gehe nicht von heute auf morgen; es brauche Geduld und ein behutsames Umsteuern.

Schließlich bleibt die Möglichkeit einer Rückkehr der Russen in der Zukunft. Sollte sich die geopolitische Lage entspannen und der Krieg in der Ukraine enden, könnten russische Touristen eines Tages wieder nach Karlsbad kommen – so wie es über 150 Jahre lang Tradition war. Einige Karlsbader blicken ohne Groll darauf: Man habe die russischen Gäste immer geschätzt, auch wenn die aktuelle Situation ihren Besuch nicht zulässt​. Bis dahin jedoch befindet sich Karlsbad in einer Phase der Neuorientierung. Der „Rubel rollt“ vorerst nicht mehr​, doch die Stadt hat schon viele Epochen überstanden und ihr Kurwesen immer wieder angepasst. Mit einem diversifizierten Touristenmix, neuen Angeboten und dem reichen Erbe als Kurstadt stehen die Chancen gut, dass Karlsbad auch 2025 und darüber hinaus seine Stellung behauptet – nur eben mit einem anderen Publikum als noch vor einem Jahrzehnt.

Quellen

 

  • Statistische Angaben und Aussagen lokaler Akteure gemäß Berichten des LandesEcho (Magdalena Moser, Dez. 2022) landesecho.cz und der Moskauer Deutschen Zeitung (Tino Künzel, Juli 2023) ​mdz-moskau.eu​
  • Augenzeugenberichte und historische Einordnung aus Tagesschau.de (ARD, 2022)​ tagesschau.de​, t-online/Welt (Hannah Herger, Jan. 2024) ​sowie Hidden Europe (2018)​ hiddeneurope.eu​
  • Hintergrundinformationen zur Entwicklung seit 1990 aus Radio Free Europe/Radio Liberty (Tony Wesolowsky, 2000)​rferl.org​ und France24/AFP (2023)​ mdz-moskau.eu​
  • Offizielle Tourismuszahlen laut Tschechischem Statistikamt (via Radio Prag, 2019/22) ​landesecho.cz​ und CzechTourism (2023) ​visitczechia.com.
  • Weitere Details zu Investitionen und Immobilien über Prague Monitor (2023)​ praguemonitor.com​ und RFE/RL (2021)​rferl.org.
  • Historische Anekdoten und berühmte Besucher nach Wikipedia Karlsbad ​de.wikipedia.org​ sowie örtlichen Chroniken​mdz-moskau.eu.

 

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